Der Weg der Demokratie
50
Jahre lang war Bonn das politische Zentrum der
Bundesrepublik Deutschland. Noch heute zeugen viele Spuren im ehemaligen Regierungsviertel von dem geschäftigen Treiben, das zwischen 1949 und 1999 in
den Gebäuden nahe dem Rheinufer herrschte. Politische Größen wie Willy Brandt oder Helmut Kohl gingen ein und aus. Sie trugen
ihren Teil zur Etablierung der „neuen Bundeshauptstadt“ bei, die zuvor als
„verschlafenes Dörfchen“ galt.
Eine Stadtführung erzählt auf rund vier Kilometern Wegstrecke ihre Geschichte. Der
Kulturkenner ist mitgegangen und hat sich der Ära des Glanzes und der Umbrüche genähert.
Haus der Geschichte
Startpunkt des Rundgangs ist das Haus der Geschichte, das Reisende südlich der Bonner Innenstadt auf der Museumsmeile finden. Passender könnte die erste Station kaum gewählt sein, schlüsselt das Museum doch Deutsche Geschichte von 1945 bis heute anschaulich auf. Zu den rund 7000 Ausstellungsstücken der Dauerausstellung gehören eine Abgeordnetenbank aus dem alten Bonner Plenarsaal und ein Eisenbahn-Salonwagen der Bundeskanzler. Sie wirken hier wie Reliquien, übrig geblieben aus einer längst vergangenen Zeit.
Dienstwagen Konrad Adenauer
Gästeführerin Gabriele Mertens bleibt vor dem Dienstwagen Konrad Adenauers im Untergeschoss des Museums stehen. „Wir sind wieder wer!“, ahmt sie den ersten Bundeskanzler der BRD nach, um direkt danach anzuschließen: „Er liebte das Schnellfahren. Seltsam nur, dass er keinen eigenen Führerschein besaß.“
Fenster im Haus der Geschichte
Apropos Adenauer: Er ist neben anderen
Politikern der sogenannten Bonner Republik mit bedeutenden Staatsgästen auf
historischen Fotos abgebildet. Sie hängen in den Schaukästen, die Passierende
auf dem unterirdischen Weg zwischen Museum, U-Bahn-Haltestelle und Ausgang entdecken
können.
Auf den Bildern sind der ehemalige französische
Staatspräsident Charles de Gaulle, der 35. Präsident der Vereinigten Staaten,
John F. Kennedy, sowie der sowjetische Politiker Leonid Iljitsch Breschnew zu
erkennen. So viel Prominenz im ehemaligen Dorf? Unglaublich. Bonn war zeitweise
Dreh- und Angelpunkt für die internationale Politik.
Die Route
Das
bestätigt auch Gabriele Mertens, während sie der gespannten Runde aus 18 Geschichtsenthusiast*innen und Hobbyhistoriker*innen die zurückzulegende Wegstrecke
auf einer Karte zeigt.
Rund zwei Stunden wird die Führung durch das ehemalige Regierungsviertel dauern. Fakten aus
unterschiedlichen Epochen warten. So auch aus der Zeit, als der Umzug des
Regierungssitzes nach Berlin in den 1990er-Jahren bevorstand.
Willy-Brandt-Allee
Doch zurück auf Anfang: Die Tour führt entlang der B9, die sich bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren zur Prachtstraße Bonns entwickelte. Sie ist in Abschnitten berühmten Politikern gewidmet. So führt die Bundesstraße etwa von der Friedrich-Ebert-Allee zum Helmut-Schmidt-Platz, um dann zur Helmut-Kohl-Allee zu werden. Natürlich dürfen Willy Brandt und Konrad Adenauer im weiteren Verlauf der sogenannten „Diplomatenrennbahn“ nicht fehlen. Adenauer ist hier sogar ein Denkmal errichtet worden.
Konrad-Adenauer-Denkmal
Wenige Schritte weiter erscheint der Kopf des Rheinländers in Übergröße. Die bronzene Statue des Künstlers Hubertus von Pilgrim,
die dem CDU-Mitbegründer und früheren Präsidenten des Parlamentarischen Rates gewidmet ist, ist heute ein Publikumsmagnet.
Sie trägt viele symbolträchtige Bilder auf ihrer Rückseite. So etwa ein Kreuz,
den preußischen Adler oder gebundene Hände. „Adenauer wurde auf Symbole und sein
wichtigstes Instrument reduziert, den Kopf. Bürger sollten dem Kanzler von
Angesicht zu Angesicht begegnen können.“
Konrad-Adenauer-Denkmal
Bei
genauerer Untersuchung fallen Betrachtenden immer mehr Elemente auf dem bronzenen
Koloss auf: „Wofür steht der Stier auf der rechten Seite?“, fragt eine
interessierte Reisende. Gästeführerin Mertens: „Der Stier erinnert an die
Geschichte von Zeus und Europa. In dieser verwandelte sich der Gott, um die
junge Prinzessin für sich zu gewinnen. Die Abbildung soll auf die Europapolitik
hindeuten, die damals ausgebaut wurde.“
Die Zuhörenden lernen zudem: Der dargestellte Rosenstock versinnbildlicht die
Liebe Adenauers zur duftenden Pflanze. Er verkörpert auch das Aufblühen der
jungen Bundesrepublik.
Palais Schaumburg
„Was
meint Ihr, wie sich die junge Bundeshauptstadt Bonn gegenüber dem Ausland
präsentierte? Eher zurückhaltend oder doch pompös?“ Unwissende Gesichter links
und rechts…
Erleuchtung bringt eine Auskunft über das Palais Schaumburg, Kanzleramt von
1949 bis 1976. Die Gruppe
erfährt, dass das repräsentative Gebäude nicht extra für den Regierungssitz neu
errichtet, sondern nur zur Nutzung hergerichtet wurde. Adenauer hatte deswegen einen ausgiebigen Streit mit dem Architekten Hans
Schwippert über den Ausbau der Auffahrt, die er zuweilen mit der einer
„Rheinischen Tankstelle“ verglich. Leider lässt der Blick durch den Zaun nichts von der heutigen Gestalt erkennen. Bleibt die Recherche.
Villa Hammerschmidt
Auch Theodor Heuss war wohl mit seinem Amtssitz nicht zufrieden: Der erste Bundespräsident ließ zwei Turmaufbauten von der Villa Hammerschmidt abtragen, bevor er 1950 einzog. Zuvor hatten in dem luxuriösen Haus bereits Kaufmann Albrecht Trost, der Baumwollfabrikant Rudolf Hammerschmidt sowie der Zuckerfabrikant Leopold Koenig gewohnt. Dessen Sohn errichtete schließlich direkt gegenüber seinem Elternhaus das bekannte Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig.
Museum Alexander Koenig
Die Grundpfeiler
des Grundgesetzes arbeitete der Parlamentarische Rat ab 1948 in eben jenem
Forschungsmuseum aus. Mit einer großen Eröffnungsfeier vor rund 500 geladenen
Gästen im Lichthof konnte es mit der parlamentarischen Demokratie in Deutschland losgehen.
Damit Vertreter*innen der Westalliierten, der Länder und des öffentlichen Lebens Platz fanden, mussten die Ausrichter zuvor die ausgestellten
Tiere beiseiteschaffen. Eine Zeitung titelte schließlich,
dass die „BRD unter einer Giraffe gegründet“ wurde – wegen deren Größe habe man sie nicht entfernen können. Ein Mythos, der sich bis heute hält, aber nicht bestätigt ist,
wie Gabriele Mertens hervorhebt.
Bundeskartellamt
Nächster
Halt der Führung: Vier Prachtgebäude auf der benachbarten
Kaiser-Friedrich-Straße, die seit Ende 1999 das Bundeskartellamt beherbergen. „1991
steht fest, dass Berlin der neue Regierungssitz nach der Wiedervereinigung von
Ost und West wird. 1994 werden Ausgleichsmaßnahmen für Bonn im Berlin/Bonn-Gesetz
beschlossen“, erklärt Mertens.
Darin ist zugesichert, dass einige Bundesbehörden
nach Bonn verlegt werden oder dort ansässig bleiben. Im Regierungsviertel
stoßen Passanten aus diesem Grund etwa auf den Bundesrechnungshof, das
Bundesamt für Justiz oder die Bundeszentrale für politische Bildung.
Villa Spiritus
Ein
weiteres historisch geprägtes Gebäude ist die Villa Spiritus, benannt nach
ihrem Bauherrn, dem Bonner Oberbürgermeister Wilhelm Spiritus. Die
prachtvolle Unterkunft diente nach dem Zweiten Weltkrieg als Überwachungszentrale der Alliierten, die von hier die Aktivitäten des
Parlamentarischen Rates genauestens verfolgten.
Heute ist die Villa wieder in Privatbesitz und zählt als denkmalgeschütztes Ensemble
zu den architektonischen Höhepunkten Bonns. Ihre Rheintreppe können Gäste nun
als schnellsten Weg zur Uferpromenade des Wilhelm-Spiritus-Ufers nutzen. Hierhin
zieht es die Teilnehmenden als Nächstes.
Wilhelm-Spiritus-Ufer
Die wunderbare
Aussicht über den Fluss fasziniert. Der Ort eignet sich ideal für einen kurzen Exkurs
nach Königswinter, beschließt Gruppenleiterin Mertens kurzerhand. Sie deutet
mit ihrem Finger auf den Petersberg, der am Horizont als Winzling erkennbar
ist. Dort entdecken die Teilnehmenden einen krönenden Prachtbau, 335 Meter über
dem Meeresspiegel.
„Ein Luxushotel“, weiß die Expertin, „ein Haus für Staatsgäste seit 1954,
natürlich mit bester Lage.“ Die Augen verengen sich. Die Mundwinkel ziehen sich
plötzlich nach oben, als sie vom sowjetischen Politiker Breschnew berichtet,
der 1973 hier in einer Rechtskurve sein Gastgeschenk auf Staatskosten zerlegte
– ein Mercedes Luxuscabrio.
Villa Hammerschmidt Rheinansicht
Vom
Gästehaus in Königswinter zurück nach Bonn: Ausgangspunkt einer kurzen
Fragerunde ist die Villa Hammerschmidt, die nun von der Rheinseite mit ihrer
opulenten Fensterfront auszumachen ist.
Sie ist heute der zweite Amts- und Wohnsitz des Bundespräsidenten,
kann jedoch für Kongresse und Hochzeiten angemietet werden. Wenn der erste Mann im Staat vorbeischaut, dann weht die Deutschlandfahne. Zuletzt begrüßte Frank-Walter
Steinmeier hier im Juni 2022 rund 6500 Gäste
zum Tag der offenen Tür.
Weg zum ehemaligen Plenarsaal
„Welche
Attribute können diesem Bau zugeschrieben werden“, fragt die Gästeführerin
einige Schritt weiter, während sie auf einen dreigeschossigen Bau mit großzügiger Fensterfassade deutet. „Offen, luftig und transparent“, so die erste Antwort. „So wie die
damalige Bundesregierung sein sollte“, ergänzt die Expertin.
An dieser Stelle der Tour wird deutlich, dass Bonn zur Umbruchszeit auch Rückschläge verkraften musste: Der Neue Plenarsaal von Architekt Günter
Behnisch, der seinen Vorgängerbau erst nach fünf Jahren Bauzeit 1992 ablöste, kam
zwei Jahre zu spät, um im Bonner Bundeshaus zu glänzen. Die Wiedervereinigung hatte 1990 bereits stattgefunden, der Umzug nach Berlin stand bevor.
Skulptur L’Allumé
Den gläsernen Kastenbau im Rücken, den Rhein erneut vor Augen. Wäre dort nicht die
Skulptur „L’Allumé“ (Der Erleuchtete) des US-amerikanischen Bildhauers Mark di
Suvero, würden die Augen auf dem Fluss ruhen, um das
Gesehene und Gehörte erstmal zu verarbeiten.
Auf eine Pause müssen Suchende
aber vorerst warten. Die roten, massiven Stahlträger ziehen sofort alles
Interesse auf sich. Sie strahlen zugleich Stabilität und Dynamik aus. Ob es
wirklich stimmt, dass eines der Segmente seit der Aufstellung im Jahr 1992 den
Weg nach Berlin weist? Möglich ist es wohl…
Altes Wasserwerk
Zwischen September 1986 und Oktober 1992, während des Umbaus vom Alten zum Neuen Plenarsaal, tagte der Deutsche Bundestag im Pumpenhaus eines alten Wasserwerks. Die Beengtheit, die das zweckentfremdete Gebäude den Abgeordneten
auferlegte, ist heute von außen nur noch schwer vorstellbar.
Hier sollen ab Oktober
1990 sogar noch mehr Schweißperlen geflossen sein – damals gesellten sich die Abgeordneten der neuen Bundesländer zum bestehenden Plenum. Die
Wiedervereinigung von Ost und West sorgte für den Zusammenschluss.
Langer Eugen
Wer einmal
in Bonn war, der kennt den „Langen Eugen“ zumindest namentlich. In dem
Hochhaus, das 1969 das höchste Bauwerk der Bundeshauptstadt war, befanden sich
bis 1999 die Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages. Heute ist er
Bestandteil des 2006 eröffneten UN-Campus und beherbergt unterschiedlichste
Organisationen der Vereinten Nationen (UN).
2022 eröffnete nahe des
Wolkenkratzers der sogenannte „Climate Tower“ für das UN-Klimasekretariat. Bei den Bonnern ist er bereits als „Kurzer Eugen“ bekannt.
Bundesbüdchen
Ob Ort
beiläufiger Begegnungen, kurzer Gespräche oder inoffizieller Treffen: Das
eigentliche Zentrum der Bonner Republik und der Star bei Bürger*innen wie
Politiker*innen gleichermaßen war von 1957 bis 2006 das 25 Quadratmeter große
Bundesbüdchen an der Straßenecke gegenüber dem Bundesrat.
Der Kiosk im
Pavillon-Stil der fünfziger Jahre zog mit Gummibären, Snacks, Getränken,
Zeitungen und Heften die Gäste magisch an. Schließlich musste er jedoch dem World
Conference Center Bonn weichen, wurde eingelagert und erst 2020 wieder am Platz
der Vereinten Nationen aufgestellt. „Ein Glück für alle Fans einer gemischten
Tüte“, sagt einer der Mitlaufenden mit einem breiten Grinsen.
Bundeshaus
Den
gläsernen Plenarsaal des Bundeshauses konnte die Gruppe bereits am
Rheinufer bewundern. Die Frontansicht lässt leider nicht so viele Einblicke in
das Bauwerk zu, das das Zentrum der parlamentarisch-demokratischen
Willensbildung war.
Gegenüber vom heutigen Marriott-Hotel ist nur noch der
Schriftzug „Deutscher Bundestag“ zu lesen. Ein geringes Überbleibsel,
arbeiteten und debattierten hier doch die wichtigsten Politiker Deutschlands
mit Unterbrechungen rund 50 Jahre lang.
Large Two Forms
Den
letzten Halt auf dem „Weg der Demokratie“ legen wir vor dem „neuen“
Bundeskanzleramt ein. Von 1976 bis 1999 diente es als Amtssitz der Bundeskanzler Helmut
Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Für Schlagzeilen sorgte die Bronzeskulptur „Large Two Forms“ des britischen Bildhauers Henry Moore auf dem
Vorplatz. Für die Aufstellung hatte sich der kunstsinnige Kanzler Schmidt 1979
eingesetzt.
Die abstrakte Plastik war in den 1980er-Jahren bei fast jeder Berichterstattung
über das Amt mindestens einmal im Bild. Wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund ihrer Wucht
und Form. Die Skulptur misst 365 × 610 × 400 cm und ist rund sechs Tonnen schwer – auch
aktuell noch ein Hingucker.
Rückweg zum Haus der Geschichte
Nach zweieinhalb Stunden ist der Kopf prallgefüllt mit Informationen. Zeit,
das Erlebte Revue passieren zu lassen: Die Stadtführung ermöglicht Reisenden,
sich der politischen Geschichte Bonns auf lebendige Weise zu nähern, auch wenn die Demokratiegeschichte Deutschlands auf dem
„Weg der Demokratie“
nicht im Vordergrund des Rundgangs stand. Sie ist
jedem zu empfehlen, der sich mit Gleichgesinnten auf eine Zeitreise begeben und
vieles über Persönlichkeiten und Wirkungsstätten erfahren möchte.
Wer hingegen lieber im eigenen Tempo auf Erkundungstour geht, sollte alternativ
die „Weg der Demokratie“-Webseite besuchen. Dort sind 65 Bonner Orte, die die deutsche Demokratie prägten, mit
detailreichen Informationen auf einer interaktiven Karte dargestellt. Routenvorschläge runden die Darstellung ab.
Das Kleingedruckte
Eine Produktion des Tourismus NRW/August 2022 für Kulturkenner.de
Einen besonderen Dank an Gästeführerin Gabriele Mertens für die freundliche Unterstützung.
Konzept & Texte: Maximilian Hulisz, Jens Nieweg
Fotos & Videos: Maximilian Hulisz