Wo die Kunst zuhause ist Zu Besuch im Wasserschloss Reelkirchen
Hinter Sprossenfenstern
...liegt einer der vielleicht aufregendsten
Kunstorte im Lipperland. Ein barockes
Herrenhaus in der Nähe von Detmold,
das auf den ersten Blick allerdings
wohltuend unaufgeregt wirkt.
Denn das alte, schlichte Schloss mit seinen
hohen Räumen ist zunächst erstmal eins:
ein Ort, an dem Sigrun Brunsiek und
Josef Spiegel mit ihren Kindern leben.
"Utopia" hat die Künstlerin Käthe Wenzel
auf ein gelbes Schild geschrieben und am
Ufer der Gräfte installiert. Denn genau
genommen sind das barocke Herrenhaus,
die Wirtschaftsgebäude, die Gräfte, der Wald
und der Park nichts anderes als ein
riesiges Experimentierfeld. 14.000
Quadratmeter für die Kunst.
Auf Zeitreise
...geht, wer durch den Torbogen das verwunschene Schlossgelände und schließlich das Herrenhaus betritt. Denn den "Mühlenbruch" in Reelkirchen hatte 1523 Hermann VIII. von Mengersen vom Bischof zu Paderborn als Lehen bekommen.
Katharina von Mengersen (1712-1775) ließ das heutige Herrenhaus errichten, das in seiner Geschichte schon vieles war: um die Jahrhundertwende ein "Töchterpensionat", ab 1944 die Patentabteilung der "Ruhrchemie", die aus Sorge vor Bombenangriffen von Oberhausen nach Reelkirchen zog. Ab 1945 dann der Sitz des "Secret Service" und schließlich der niederländischen Militärpolizei. Sigrun Brunsiek und Josef Spiegel wollen aus ihm nun einen "Dritten Ort" machen - ein zweites Zuhause für alle, die Kultur lieben – mitten auf dem Land.
Sigrun Brunsiek kennt das Haus schon lange. Eigentlich ihr ganzes Leben lang. Denn nicht weit von hier war sie auf einem Obsthof groß geworden und schon als Kind auf dem verwunschenen Schlossgelände umhergestriffen - nicht ahnend, dass es ihr einmal gehören würde. Als sie es 2013 mit ihrem Mann kaufte, hatte es jahrzehntelang leer gestanden. Und war stark sanierungsbedürftig. "Allerdings war auch nichts kaputtrenoviert worden", sagt Sigrun Brunsiek heute.
Jahrelang sanierte sie mit ihrem Mann und vielen Helfern das gesamte Areal.
...heute sind die beiden Schlossbesitzer der eher unkonventionellen Art: 23 Jahre lang, von 1997 bis 2020, war Josef Spiegel Geschäftsführer des Künstlerdorfes Schöppingen. Die Familie zog damals natürlich mit, Sigrun Brunsiek stieg in die Arbeit ihres Mannes mit ein – und hat seither mit ihm die unterschiedlichsten Formate entwickelt: Etwa die "Stadtbesetzung", eine Reihe des Kultursekretariats Gütersloh, die Künstler*innen Performances und Installationen im öffentlichen Raum ermöglicht. Oder "NRW Skulptur", eine Plattform, die Kunst im öffentlichen Raum erklärt und sichtbar macht.
Wo die Kunst experimentiert
Einmal im Jahr kommen auch Künstler*innen verschiedenster Genres zum Sommerfest nach Reelkirchen. Nicht selten arbeiten sie dann nicht nur im Ort, sondern auch mit ihm – so wie 2022 die Tänzerin Marina Epp und die Künstlerin und Musikerin Angelika Höger.
Kunst im Schloss
...gibt es genau genommen in Reelkirchen seit Jahrhunderten. Denn 1810 hatten die damaligen Schlossbesitzer ein Tapetenzimmer eingerichtet, mit Szenen einer idealtypischen Hafenstadt in Grautönen, die entfernt an Venedig erinnert.
Heutige Kunst an der Wand...
...gibt es natürlich auch. Denn die Bremer Künstlerin Patricia Lambertus hat ihre eigene Antwort auf das historische Tapetenzimmer gefunden und eine Tapetenszenerie entwickelt. Aus historischen Fotos, verblüffenden Augentäuschungen und idealen Landschaften.
Reelkirchen
...liegt im Lipperland. Im 800-Seelen-Dorf hat sich viel Geschichte erhalten - und manches unverhofftes Kleinod wie dieser Kolonialwarenladen von 1890 (!), der seit Jahrzehnten leer steht. Mitsamt seinem Inventar. Auch ihn haben Sigrun Brunsiek und Josef Spiegel längst in ihre Kunstprojekte miteinbezogen.
Regelmäßig organisieren sie Lichtkunstspaziergänge, auf denen Künstler mit und im Ort selbst arbeiten. Cornelia Rößler entwickelte ein Werk für und auf dem alten Ladengeschäft. Und erzählte auf seinen schon blinden Fenstern die Geschichte eines Vaters und seiner Tochter.
Mit Licht...
...wird zu den Spaziergängen natürlich immer wieder auch das Schloss selbst in Szene gesetzt. Wie hier 2021 mit Tim Roßbergs Arbeit "Down Levelling".
Technobeats auf dem Land? Zur Schlossgemeinschaft gehört auch Felix Bes, der aus einem kleinen Holzhaus direkt an der Gräfte Bässe über den Mühlengrund schickt.
Auf der Suche nach einem ruhigen Ort
zum Arbeiten hat der französische Musiker Baumaterial
aus der alten Schmiede recycelt, die gerade zu einem barrierefreien Veranstaltungsraum, Café und Gästehaus umgebaut wird.
So ist Reelkirchens erstes
Tonstudio entstanden.
Viele Tiere...
...und elf Menschen sind auf dem alten Mühlengrund zuhause. Einige von ihnen leben hier als Selbstversorger, arbeiten künstlerisch oder leben von ihrer Musik wie Eckhard Naujoks.
Zur Schlossgemeinschaft gehört auch die Künstlerin Vera Lossau, die plastisches und räumliches Gestalten an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe lehrt – 15 Autominuten von Reelkirchen entfernt.
Vera Lossau hat Student*innen eingeladen, im Wasserschloss mobile Wohnskulpturen auszustellen, die sie im Rahmen einer Semesterarbeit entwickelt haben. Eine von ihnen ist Ayla Eggeling.
Das Kleingedruckte
Fotografie und Video: Markus J. Feger
Text, Konzept, Redaktion: Annika Wind
Eine Produktion des K.WEST-Verlag für www.kulturkenner.de