Das Tanztheater Münster von Choreograf Hans Henning Paar Scherz, Grusel, Poesie und tiefere Bedeutung
"Ich kenne mich selber nur in Bewegung"
Hans Henning Paar...
über ein Leben in Bewegung
Der witzigste Choreograf in NRW
Keine Wahl? Zum Künstler verurteilt? Oder ist das bloß die ironische Übertreibung einer Künstlerpose? Man weiß es nicht bei Hans Henning Paar. Müsste man den witzigsten Choreografen Nordrhein-Westfalen küren, der Siegerplatz wäre ihm gewiss.
Als wir ihn im Theater Münster besuchen, führt er uns mit unüberbietbaren Entertainer-Qualitäten durch das ganze Haus, zeigt die unaufgeräumtesten Ecken, die seltsamsten Details: herumstehende Requisiten, eine Galerie alter Theaterfotos, den 1960er Jahre Lampionhimmel im Saal, den Blick vom höchsten Punkt der Zuschauersitze auf die Bühne. Start der Führung: Natürlich im Keller. Und in die eigenen Katakomben steigt er - freudianisch gut geschult - auch gern hinab, um seine Künstler-Existenz zu erklären. 1966: Geburt in Kassel.
Im Atelier des Großvaters
"Choreografieren ist Spinnen"
Am Anfang Ballettschule
Aufgewachsen ist Hans Henning Paar in Homberg an der Efze. Da gab es eine kleine private Ballettschule, die von den Mädchen seiner Grundschulklasse besucht wurde. Hans Henning Paar ist dann einfach mal mitgegangen, ohne seinen Eltern Bescheid zu sagen. Das ging lange ohne offizielle Anmeldung gut. Bis die Lehrerin die Eltern anrief, um einen Vertrag zu machen. So ist Hans Henning Paar beim Tanz gelandet.
Lehrjahre
Mit 14 Jahren reist Paar nach Stuttgart: Vortanzen in der berühmten John-Crankoschule. Er wird genommen. Aus der Provinz in die Großstadt? Zu einer Gruppe ausgehungerter Mädchen, seltsamer Jungs? Nichts für Hans Henning Paar. Er macht einen Rückzieher, besucht stattdessen die Ballettschule in Kassel, tanzt gelegentlich als Eleve am Staatstheater. Weil die Eltern kein Studium finanzieren können, nimmt er nach dem Abitur ein Engagement in Detmold an.
Später folgt in München der Drill zum klassischen Tänzer. Die 'bayrische Ballettkönigin', die große Primaballerina Konstanze Vernon fördert ihn. Aber ein Romeo oder ein Prinz Siegfried wird dann doch nicht aus Hans Henning Paar. Was er kann, ist Komik. Groteske, Hässlichkeit. Und er kann noch etwas: Choreografieren.
Stationen einer Karriere
Hans Henning Paar ist erst 30 Jahre alt, da wird er 1996 als jüngster Ballettdirektor Deutschlands ans Stadttheater Nordhausen berufen. Lange bleibt er nicht, er ist ein unruhiger Geist. Er wird Tanzchef in Kassel, dann in Braunschweig, dann der Karrieresprung: München! Das Staatstheater am Gärtnerplatz will ihn haben. Doch zwischen dem heiteren Hessen und den Bayern mit Weltstadtanspruch erblüht keine Liebe. 2012 kommt er als Leiter des Tanztheaters nach Münster.
Tanztheater = Tanz + Theater
„Tanztheater“ nennt Hans Henning Paar seine Kompanie. Aber in der Wuppertaler Revue-Tradition, gar als Nachfahre von Pina Bausch sieht er sich nicht. Bloß kein Kopist eines Genies sein! Paar nimmt den Begriff 'Tanztheater' wörtlich: als Verbindung von Tanz und Theater. Eine gut verständliche Dramaturgie, lesbare Gefühlszustände, ein luzides Konzept – so lauten die Konstanten eines Paar-Abend, egal ob er abstrakte Musikabende choreografiert, etwa zu J.S. Bach, seinem Komponisten-Abgott. Oder revuehafte Themenabende über die schwarze Romantik und den Zirkus. Oder – seine Spezialität: Literaturballette. Kafka, Wedekind, Shakespeare. Immer wieder Shakespeare.
12 Tänzer und ein Hund
12 Tänzer gehören zur Kompanie. Für Paar sind sie vor allem „Typen“. Seine choreografische Fantasie entzündet sich an Menschen und Charakteren. Er brauche den unheimlichen Sonderling in seiner Truppe, die kühle Filmschönheit, die verträumt Sensible. Und noch eine Kreatur gehört seit Jahren zur Kompanie: der Hund.
Xanti, das große Wesen
Hans Henning Paars Tschechischer Terrier „Xanti“
ist immer im Probenraum dabei und mischt
gelegentlich die Formationen auf. Er sei, orakelt der Choreograf, das große Wesen“.
Gejagt vom Stress der Zeit
Auf seiner Bühne ist immer was los. Die Tänzer sind Getriebene, von ihren Gefühlen gebeutelt, gejagt vom Stress der Zeit. Kribbelig-empfindsame Körper in kleinteiligen, schnellen, auch verschwenderischen Choreografien. In seinen musikalischen Vorlieben bleibt Hans Henning Paar unberechenbar, von Klassik Jazz, Pop bis Techno hat er schon alles ausprobiert. Die 'Kulinarik' seines Stils wird Hans Henning Paar gelegentlich vorgeworfen.
Ein wirklich verstörender Provokateur, ein gesellschafts-attackierender Radikaler ist er nicht. Aber vielleicht muss so etwas in Münster, der leisen, fahrrad-, energie- und kinderfreundlichen, lebenswerten und überhaupt sehr preisgekrönten Stadt auch nicht sein?
Das Gefühl Gefühl sein lassen
Hanns Henning Paar ...
über seine Sehnsucnt nach Zärtlichkeit, Power und Sexualität
Plaisir und soziale Verantwortung
Künstlersein - der eine mag darin den Auftrag zum Rebellentum sehen, einer wie Hans Henning Paar sieht eher das Plaisir, aber auch: die soziale Verantwortung. Neues, junges Publikum gewinnen, ist die eine Mission von Paar. Randgruppen-Politik eine andere. So war er der erste Ballettdirektor in Deutschland, der 1999 eine Benefiz-Tanzgala für die AIDS-Hilfe initiierte. Damals war HIV noch ein Tabuthema. Hans Henning Paar holte es mit glamourösen Gaststars wie Wladimir Malakhov aus der 'Schmuddelecke'. Und dann gibt es noch eine weitere Gruppe gefährdeter Parias und Entrechteter, denen sein Kampfgeist gehört:
Gefährdete Tanzlandschaft
Hans Henning Paar...
über die gefährdete Tanzlandschaft in Deutschland
Sonniges Gemüt
Hans Henning Paar - Tanz-Enthusiast, Hedonist, optimistischer Pragmatiker mit bestechender Offenheit. Einen Tag lang durften wir Münsters Spartenchef begleiten, ihn bei einer Probe beobachten, in den unmöglichsten Posen fotografieren, viel lachen, lustvoll lästern. Den zweifelnden, suchenden, verzagten Hans Henning Paar haben wir nicht gesehen, aber es gibt ihn, so versichert er uns - natürlich mit einem Augenzwinkern. Bekenntnisse eines sonnigen Künstlergemüts.
Das Kleingedruckte
Fotografie und Video: Markus J. Feger
Text und Konzept: Nicole Strecker, Andrej Klahn
Redaktion: Andrej Klahn
Eine Produktion des K.WEST Verlag für www.kulturkenner.de