Klettern auf dem Brückenbogen Müngstener Brücke
Der feste Boden unter, der stählerne Koloss über einem. Das Herz schlägt schneller. Die Augen können sich nicht abwenden. Dort soll es also raufgehen, auf die kleine Plattform in knapp 100 Metern Höhe. Direkt zwischen die gigantischen Pfeiler und Streben der Müngstener Brücke. Zum Herz des majestätischen Brückenbogens, der das Tal der Wupper zwischen Solingen und Remscheid überspannt. Höhenangst? In diesem Moment: Keine Spur.
Eine Bahn rauscht über die Gleise. Die Fahrgeräusche verklingen langsam im Wind. Das muss die S7 sein, die mehrere Stationen im Bergischen Städtedreieck ansteuert und am nahegelegenen Bahnhof Solingen-Schaberg hält. Von hier starten viele Abenteurer ihren Ausflug ins Grüne und zur Industriekultur: zur idyllischen Parklandschaft, zum Spiel- und Bewegungspfad und zum Müngstener Brückensteig – dem heutigen Reiseziel.
Der Erlebnisweg bietet Kulturfans seit August 2021 die Chance, sich Deutschlands höchste stählerne Eisenbahnbrücke zu erklettern. Bei einer von zwölf täglichen Touren erfahren bis zu 15 Teilnehmer:innen, wie es zur Entstehung des 107 Meter hohen Monuments kam und welche Legenden sich um das historische Bauwerk drehen. Zweieinhalb lehrreiche Stunden voller Teamarbeit und Adrenalinstöße warten.
Los geht‘s im Haus Müngsten, einem Ausflugs- und Veranstaltungslokal inmitten des Müngstener Brückenparks. In der obersten Etage empfangen die Fachleute der Deepwood GmbH die Gäste, die die Tour als Veranstalter organisieren. Nach einer kurzen Begrüßung am Schalter heißt es dann, Handy in die Schutzhülle, ein Sicherungsband an die Brille und Wertsachen in den Spind. Denn es wird ernst.
Gruppenleiter Philipp Huege stellt sich vor: Er ist 26 Jahre alt und Experte auf dem Wissensgebiet der Müngstener Brücke. Er führt die Gäste in die Geschichte des bergischen Wahrzeichens ein und klärt anschließend über die Grundlagen der Sicherungstechnik auf. Die Hinweise sind für die Begehung des Brückensteiges unabdingbar.
Jeder Teilnehmer bekommt von ihm einen Klettergurt, einen Schutzhelm und ein Walkie-Talkie. Der nächste Schritt ist das eigenständige Anlegen der Ausrüstung im Freien. Schnell wird klar: So einfach, wie es beim Profi aussieht, ist es nicht. Helfende Hände sind nötig, damit alle Teile am Körper sitzen. Noch ein prüfender Blick, dann setzt sich der Menschenzug in Bewegung.
„Warum wird die Müngstener Brücke auch der Deutsche Eifelturm genannt“, fragt Philipp Huege in die Runde, nachdem die Wandernden die erste Steigung hinter sich gebracht haben. Einige Sekunden vergehen. Dann eine mögliche Lösung: „Weil ihr Erbauer Gustave Eiffel war.“ Leider falsch. Der Experte erklärt: „Die Brücke ist die Antwort deutscher Ingenieurskunst auf das französische Industriewunder. Sie ist 164 Meter länger als der Eifelturm hoch.“
Mit großer Begeisterung startet eine Quizrunde, während sich der Trupp langsam den Gerüstpfeilern auf Solinger Seite nähert. Die Entdeckenden erfahren beiläufig, dass die Brücke 1897 von Ingenieur Anton von Rieppel fertiggestellt wurde. Spannend wird es für viele, als es um die Legende des goldenen Niets geht: Der letzte der 950 000 verwendeten Nieten für den 5000-Tonnen-Stahlkoloss soll aus Gold gewesen sein. „Haltet ruhig danach Ausschau“, so Huege.
Schließlich lautet das Kommando „Einklinken!“ Der große lilafarbene Sicherungshaken, der mit dem Klettergurt verbunden ist, kommt über das befestigte Stahlseil, das ab jetzt den Weg an der Aufstiegstreppe vorgibt. Er wird nach und nach über schwarze Sicherungen und Bremsen geführt, die bei einem Fall Leben retten.
Nun ist klar: Es gibt kein zurück mehr! Teile der Gruppe laufen vorweg, andere hinterher. Jeder achtet genau darauf, nichts falsch zu machen. Die linke Hand liegt auf dem Treppengeländer, während die rechte Hand den starken Karabiner entlang der Führung immer weiter nach oben schiebt. Schritt für Schritt geht es aufwärts. Achtsamkeit hat oberste Priorität. Jeder achtet auf sich und seinen nächsten.
Die Anspannung wird ab und an nur durch kleine Pausen unterbrochen, in denen der Blick mal zurück, mal auf die wunderbare Landschaft des Müngstener Brückenparks fällt. Haus Müngsten ist mit seiner braunen Stahlfassade und den großen Fensterfronten nur noch ein kleiner Fleck im Grün. Unten fließt ruhig die Wupper. Bäume ragen aus den Hängen empor. Die Brückenschatten überdeckt die Auenlandschaft.
In einiger Entfernung zeigt sich ein Aussichtspavillon, der Diederichstempel genannt wird. Er erhielt den Namen nach seinem Remscheider Stifter August Diederichs und ist ein beliebtes Ausflugsziel für Wanderer, wie die Gruppe kurzerhand über Funk erfährt. Die Sehenswürdigkeit wurde 1901 im neugotischen Stil gebaut. Sein Geschwisterbau steht in der Nähe von Schloss Burg.
„Hallo, hallo! Könnt ihr mich alle gut verstehen? Wir nähern uns gleich dem höchsten Punkt des Brückenbogens. Kurz dahinter habt ihr die Wahl, ob ihr über einen fußbreiten Querbalken gehen möchtet. Alle können, keiner muss“, schallt es plötzlich aus dem Funkgerät. Die Entscheidung fällt an dieser Stelle leicht. Die ganze Gruppe zieht mit.
Während sich die ersten Wagemutigen an vorderster Front zum Balance-Akt wagen, wird im mittleren und hinteren Teil der Schlange gestaunt und gescherzt. „Ich darf bloß nicht nach unten gucken“, sagt eine Reisende zu ihrer Freundin. „Das schaffst du schon. Es sind nur wenige Meter“, erwidert diese mit einem Lächeln.
Das „Schlimmste“ ist geschafft. Erinnerungsfotos hat Gruppenleiter Philipp Huege von jedem einzelnen auf dem Balken geschossen. Sie können im Nachhinein heruntergeladen werden. Nun geht es auf den Rückweg. Natürlich nicht, ohne noch etwas über die Brücke vom Experten zu lernen. Sie überstand beide Weltkriege ohne größere Schäden. Eine Sprengung durch die Nazis konnte durch drei mutige Offiziere verhindert werden – ein Wunder.
Unten angekommen macht sich schließlich Erleichterung breit: Was für ein Tag, was für eine Erfahrung! Die neu gegründete Kletterfamilie teilt vor dem Abschied noch ihre Eindrücke miteinander; Momentaufnahmen erscheinen erneut. Das ruhige Rauschen der Wupper macht es leicht, sich Bilder in Erinnerung zu rufen.
Ob es die Müngstener Brücke mit fünf anderen Brücken Europas in den kommenden Jahren wohl zum UNESCO-Weltkulturerbe schafft? Das bleibt abzuwarten. Verdient hätte Sie es als Erbe der Industriekultur in jedem Fall. Höhenangst? Weiterhin keine Spur.
Eine Produktion von Tourismus NRW/Oktober 2021 für Kulturkenner.de
Konzept & Texte: Maximilian Hulisz
Fotos & Videos: Maximilian Hulisz