Wandern mit Annette Mit ihren poetischen Fähigkeiten die Schönheiten der Natur zu „veredeln“ - diese Lebensaufgabe hatte sich Annette von Droste-Hülshoff gestellt.
Mehr als 170 Jahre nach ihrem Tod vollendet der Lyrikweg nun ihr Vorhaben.
Einstieg
Den Weg zwischen dem Elternhaus der Dichterin, der Burg Hülshoff in Havixbeck, und ihrem Wohnort, Haus Rüschhaus in Münster-Nienberge, verbindet jetzt eine Wanderroute, digital und analog aufgemöbelt durch farbige Stelen mit Texten, vorgelesenen Hörstücken und lyrischen wie musikalischen Interpretationen unserer Gegenwart. Ein mindestens sieben Kilometer langer, von der Informationsfülle her fordernder, aber überwältigend schöner Parcours.
Burg Hülshoff
Sommer auf Burg Hülshoff: Die Hortensien lassen in der ersten Hitze die Blätter hängen, Wasserfontänen werfen Sauerstoff in den ruhenden Wassergraben. Ein Konzert von Fröschen ist zu hören, begleitet von Vorbereitungen für eine Verlobungsfeier im Burg-Café. Eine Szenerie wie gemalt, an einem der schönsten Orte des Münsterlands.
Hier, in der Idylle westfälischer Aufgeräumtheit, ist Annette von Droste-Hülshoff 1797 zur Welt gekommen und hat sich – entgegen den Regeln für hochwohlgeborene katholische Töchter – in die Bildung gestürzt, sich mit zeitgenössischen Herausforderungen beschäftigt und Poesie geschaffen.
Burg Hülshoff
Drinnen in der Burg bewahrt das Droste-Museum ihr Erbe. „Wenn man einmal ganz vorsichtig an die Messingklinken von den Türen fasst, (…) dann kann man sicher sein, die hat Annette auch angefasst“, erzählt Denkmalpfleger Ulrich Reinke in der App zum Lyrikweg und verstärkt den Eindruck, irgendwie sei dieser Ort zeitlos und unverändert durch 200 Jahre gekommen.
Sogar das Mobilfunknetz hier sei „auf dem Stand von 1797“, scherzt die ausliegende „Wanderkarte“ aus Papier. Also: Zuhause die Datenpakete aufs Handy spielen und ausprobieren.
An der Burg ist es nun Zeit aufzubrechen.
Der Weg
Jenseits des Haupteingangs, hinter dem Wildgehege, stehen die ersten farbigen Stelen und markieren den Wegeverlauf. Ganz gerade ist diese Strecke der alten Hülshoffer Allee gezeichnet, die von der jungen Dichterin immer und immer wieder gegangen und mit der Kutsche befahren wurde. Wir folgen ihr in die „Droste-Landschaft“.
Den Takt des Gehens gibt Klangkünstlerin Antje Vowinckel vor: Sie zerlegt im Hörstück ortbezogene Worte wie Erdäpfel, Pferdäpfel und Ponymodule sprachrhythmisch. Vor Drostes Augen schreckt ein Vogel im Gebüsch „aus dem Halbschlafe auf und träumt halbe Kadenzen seines Gesanges nach“. Dieses hübsche Bild begleitet uns auf dem Weg.
Der Weg
Das Handy wird gebraucht, die farbigen Stelen geben nur einen Bruchteil der künstlerischen Wegzehrung wieder.
Mit vollem Akku geht es zu kurzen Texten und langen Geschichten, Lyrik und Musik, zeitgenössisch und historisch.
Es ist der Verdienst des Center for Literature und dem Team um Leiter Jörg Albrecht, dass diese Formate auf der Burg einträglich zusammenwirken. Der Lyrikweg ist das bislang umfangreichste Projekt des Zentrums mit seiner interdisziplinären Ausrichtung. Es verbindet die Zeilen Drostes mit Künsten der Gegenwart und beide widmen sich dieser so reizvollen flachen Landschaft. Dazwischen geben die Schritte den Klang vor.
Burg Schonebeck
Es war einmal eine Burg… Nichts ist geblieben auf diesem Acker von der mächtigen Burg Schonebeck, dem Stammsitz des Adelsgeschlechts der Schonebecks, denen die Droste-Hülshoffs 1417 die spätere Burg Hülshoff abgekauft hatten. Die Herren von Schonebeck gerieten in finanzielle Nöte und mussten das Gut aufgeben, auch Annette von Droste-Hülshoff wurde um Geld gebeten.
In ihren Texten beschäftigte sie sich wiederholt mit dem Untergang des Adels. Ebenso das Musikerduo „Landschaft“ von Ulrike Almut Sandig und Grigory Semenchuk in der App, die sich selbst als Poetry-Band bezeichnen. Sie und die farbigen Stelen lassen die Burg vor den Augen wiedererscheinen.
Droste-Denkmal
Die Droste-Verehrung kehrt mehr und mehr an diesen Ort zurück. Einen Gedenkstein hat man ihr vor Jahrzehnten aufgerichtet, dazu einen Rastplatz mit Wetterhütte. Hier hat sich die „Droste-Landschaft“ verändert. Unüberwindbar war zu ihrer Zeit die Aa nach starkem Regen und zwang zur Umkehr. „Ich muss gutes Wetter abwarten, da der Weg von hier nach Rüschhaus gar nicht zu fahren ist“, schrieb sie in einem Brief.
Heute gibt es Brücken, die Aa ist nach ihrer Begradigung in den 1930er Jahren längst wieder renaturiert. Nur die Folgen des Baus der Autobahn 1 sind nicht rückgängig zu machen. So mahnen die bunten Stelen im Einklang mit dem Gedenkstein an den Wandel und die Vergänglichkeit. „Dem Abschied von der Jugend“ gedenkt die Gravur. Mit dem Tod des Vaters musste Annette Burg Hülshoff verlassen und zog mit Schwester und Mutter ins Rüschhaus.
Die Hälfte dieses Weges ist geschafft.
Park-Landschaft
Trotz aller Veränderungen zeigt sich hier die für das Münsterland so typische Parklandschaft wie sie schon Annette von Droste-Hülshoff kannte. Der Lyrikweg, von den Machern des Center for Literature gedacht als „Outdoor-Museum“, eröffnet schönste Perspektiven in die landwirtschaftlich genutzten Räume aus Ackerflächen, Wallhecken, Alleen und Wiesen.
Die Wallhecken, große, die Landschaft gliedernden Baum- und Strauchreihen, hatten es der Dichterin besonders angetan. Hinter ihnen versteckten „die pfiffigen Münsterländer“ gern „die eigentliche Elite der Ställe, (…) schönes schweres Vieh. (…) Damit kein reisender Diplomat (…) etwa Appetit dazu bekomme!“ Wie recht sie hatte, auch an dieser Stelle: Da es unmittelbar auf dem Lyrikweg keine Gastronomie gibt (nur auf Burg Hülshoff und kurz vor Haus Rüschhaus das Hotel und Restaurant Hüerländer), bietet sich die Mitnahme leiblicher Nahrung unbedingt an.
Park-Landschaft
Der Weg verengt sich, der Blick weitet sich. Die Stele lässt durchblicken auf die Eibe, lateinisch Taxus. Annette von Droste-Hülshoff hat sie schon gestreift. 300 Jahre steht sie hier, wie schmal damals, wie breit heute zeigt die Stele anhand der Rundausschnitte. „IF – EIBE – YOU“ spricht Barbara Köhler zur Musik von Barbara Morgenstern hier aus der App.
Eine traumwandlerische Atmosphäre entsteht im dichten Geäst. Droste holt uns auf den Waldboden zurück: „Nun aber bin ich matt, und möchte‘ an deinem Saum vergleiten, wie ein Blatt geweht vom nächsten Baum“.
Haus Rüschhaus ist nicht mehr weit.
Rüschhauser Heide
Von der „Rüschhauser Heide“ berichtet Biologe Thomas Hövelmann in der App. Zu sehen sind aber nur Bäume und Farne, zu hören ist die Autobahn. Hier war es einst, was Droste-Hülshoff in „Der Heidemann“ als bedrohlich beschrieb.
Zu ihren Zeiten waren die Bäume verwertet und eine offene Heidelandschaft entstanden; ein Paradies für Bienen, Vögel und Schafe.
Heute ist das anders und das kühlende Waldklima entzückt kurz vor dem Ziel. Auf Röricht, Blutweiderich und Wasserminze lohne sich zu achten, als letzte Spuren einer Heide, rät Hövelmann. Ebenso zu achten ist auf Mücken, denkt der Wanderer an kleinen Wasserstellen.
Rüschhauser Heide
Der Lyrikweg scheint wie ein weit entfernter Ort, abgelegen für weite Gedanken und tiefe Empfindungen. Aber so weit entfernt ist die 317.000-Einwohner-Stadt Münster gar nicht. Davon zeugt auch die mannshohe und 40 Tonnen schwere Skulptur „Dialogue with Johann Conrad Schlaun“ von Richard Serra, die für die Skulptur Projekte 2006 aufgestellt wurde. Serra schuf wiederholt Arbeiten für die Umgebung von Schlauns Gebäuden und besetzt hier die ursprünglich repräsentative Auffahrt zum schon sichtbaren Ziel des Lyrikwegs, dem Haus Rüschhaus.
Haus Rüschhaus
Das Ziel ist erreicht. Mit dem Haus Rüschhaus setzte sich ein „Star-Architekt“, so heißt es in der App, selbst ein Meisterwerk. Johann Conrad Schlaun schuf unter anderem den Erbdrostenhof, ein barockes Adelspalais, und das Residenzschloss in Münster, war am Schloss Nordkirchen beteiligt, und entwarf für den Kölner Kurfürst Clemens August auch die heutigen UNESCO-Welterbe-Schlösser Augustusburg und Falkenlust in Brühl.
In Nienberge bei Münster baute er das Rüschhaus als repräsentatives Wohnhaus für sich selbst aus. Haus Rüschhaus ist heute ein Museum und gehört zum Center for Literature.
Haus Rüschhaus
1825 kaufte Annette von Droste-Hülshoffs Vater das Haus Rüschhaus. Nach ihrem Einzug 1826 schuf sie hier viele Werke, auch ihr bekanntestes, die „Judenbuche“. „Ich lebe hier sehr still für mich, und das ist das Angenehme daran …“ schreibt sie 1837 an ihre Mutter. Im Garten der Barockvilla rastend, glauben wir dies gerne, lauschen den Fröschen, Vögeln und den Stimmen im Handy. Der strenge französische Ziergarten nach der Planung von Johann Conrad Schlaun war übrigens zu Drostes Zeiten ein bunter Blumen-, und Nutzgarten, der ihr immer wieder Anlass bot, in der Literatur verarbeitet zu werden.
Haus Vögeding
Der Lyrikweg ist kein Rundweg. Wer zurück zur Burg Hülshoff gehen will und gut zu Fuß ist, geht die Strecke auf gleichem Weg zurück und weicht nur auf einem Abschnitt etwa in der Mitte vom Hinweg ab. Hier befindet sich Haus Vögeding. Eine äußerst malerisch gelegene Wasserburg in Privatbesitz, in der Annette zu Droste-Hülshoff oft zu einer Buttermilch einkehrte und mit der Bewohnerin Neuigkeiten besprach. Auch mit ihrem Freund und Förderer, dem Schriftsteller Levin Schücking, war sie hier oft zu Gast. Noch immer herrscht ein guter Austausch und ein Miteinander auf Gut Vögeding, davon berichten heutige Besitzer*innen und Bewohner*innen in der App.
Das Kleingedruckte
Jens Nieweg für Tourismus NRW e.V. und kulturkenner.de
Alle Bilder und Videos: © Tourismus NRW e.V.